Dr. Cristina Barth Frazzetta
Co-Founder, COO & Head Coach Life Orientation & Navigation
Der Begriff Stress kommt ursprünglich aus der Werkstoffkunde.
Dort bezeichnet er den Zug oder Druck auf ein Material, wie zum Beispiel ein Metall oder Glas. Gemessen wird die dadurch entstehende Spannung und Verzerrung – sie variiert. Wird der Stress zu groß, entstehen Risse oder Brüche.
Beim Menschen löst er die Fight-or-Flight-Reaktion aus, was mit der Ausschüttung von Hormonen verbunden ist, die das sympathische Nervengerüst aktivieren und damit unser gesamtes System Körper in einen anderen Zustand versetzen:
Wir empfinden weder Hunger noch Durst und auch keine Müdigkeit, nicht einmal Schmerz. Wir sind dann hellwach, der Speichelfluss gedrosselt, die Durchblutung wird von bestimmten Bereichen abgezogen und der Muskulatur zur Verfügung gestellt, diese spannt sich an, Herz und Atmung steigern ihren Rhythmus, die Bronchien erweitern sich, um eine höhere Sauerstoffzufuhr zu ermöglichen und das Gehirn fokussiert ausschließlich auf die Alternativen zur (Lebens-)Rettung.
Das ist, wie so Vieles, was unser Körper kann, ein unfassbar komplexer und großartiger Vorgang – sofern er für kurze Zeit zum Einsatz kommt.
Heute, wo es in unserer Gesellschaft nur selten um Leben oder Tod geht, ist der von außen auf uns einwirkende Stress jedoch häufig längerfristig, wenn nicht permanent.
Das hat fatale Auswirkungen, denn nach und nach wird die Selbstregulation des Systems außer Kraft gesetzt: So bleibt, um nur einiges zu nennen, zum Beispiel der Hormonspiegel hoch, die Herzrate passt sich nicht mehr an (Treppensteigen = mehr Anforderung vs Schlaf = weniger Anforderung), es kommt zu erhöhten Entzündungswerten im Körper, zu mangelnder Abwehr, zu Schlafstörungen, sprich weniger Reparaturleistung, und in der Konsequenz zu mehr Anfälligkeit für Krankheiten je nach individuellem Schwachpunkt.
Da ist es, das Äquivalent zu den Rissen und Brüchen in der Materialwirtschaft.
Im Gegensatz zu einem Werkstoff haben wir Menschen die Möglichkeit, uns einem zu starken Druck zu entziehen oder aber anders damit umzugehen, indem wir Spannung auch wieder abbauen und uns eben nicht zu sehr verbiegen lassen.
Aber blicken wir doch zuerst noch einmal darauf, wo äußerer Stress bei uns herkommt und was dabei sonst noch mit uns geschieht, wenn wir nicht bewusst gegensteuern.
Immer häufiger lesen wir von einer Zunahme der Burnout- und Depressionsfälle oder hören im Freundes- und Bekanntenkreis von Schlaflosigkeit und Erschöpfung...
Erschöpfung hat mit Schöpfung zu tun, also mit Kreativität, der Quelle unserer Lebendigkeit, Kraft und Motivation.
Kein Wunder, dass in einer Welt der Fremdbestimmtheit Erschöpfungszustände inzwischen an der Tagesordnung sind!
Angefangen bei der medialen Dauerbeeinflussung, über die Aufhebung der natürlichen Zeitrhythmen, Beschleunigung der Reaktionszyklen mit durchgetakteter Wach- und verkürzter Schlafzeit bis hin zum Fehlen echter Erholungsriten, die in vielen Fällen zusätzlichen Freizeit- und Fitness-Zwängen gewichen sind.
Das Ich hat kaum noch Gelegenheit, sich selbst zu bemerken und dass das nicht gesund ist, lässt sich inzwischen nicht mehr leugnen – denn es ist messbar geworden:
Laut AOK Fehlzeiten-Bericht 2023* sind die Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen von 2012 bis 2022 um 48% (!) gestiegen. Darüber hinaus sind die durchschnittlichen Fehltage mit 29,6 Tagen pro Fall erheblich höher als bei anderen Erkrankungen (Durchschnitt aller Erkrankungen 11,3 Tage). Psychische Erkrankungen (10,3%) nehmen inzwischen nach den Atemwegs- (17,5%) und Skeletterkrankungen (17,4%) den 3.Platz aller Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen ein, wobei jeder Allgemeinarzt weiß, dass der Auslöser oder zumindest die Verschlimmerung zum Beispiel auch bei Rückenleiden und Asthma oft durch psychische Belastung entsteht!
Häufig liegt die Ursache dafür im beruflichen Umfeld, denn schon auf mittlerer Ebene werden heute ein vorauseilender, selbstverantwortlicher Umgang mit Entscheidungen und Prioritätensetzung und eine schnelle flexible Anpassung an Veränderungen vorausgesetzt.
Das ist im positiven Sinne zwar herausfordernd und spannend, erzeugt aber zugleich einen Druck, dem kaum jemand auf Dauer gewachsen ist, insbesondere, wenn in Wirklichkeit dennoch mangelnde Ermächtigung und minutiöse Kontrolle vorherrschen!
Gleichzeitig können wir überall lesen, wie es besser geht. So haben zum Beispiel auch viele selbsternannte Coaches (die häufig eine schwammige Mischung aus Lebensberatung, Verhaltenstherapie und fachlichem Besserwissen anbieten) entsprechend Hochkonjunktur.
Aber leider haben die auf den ersten Blick einleuchtenden Anleitungen und praktischen Patentrezepte selten nachhaltige Wirkung...
Woran liegt das eigentlich? Es gibt eine einfache Erklärung:
In meinen gut 40 Jahren Arbeit mit Menschen, zunächst als Ärztin und Therapeutin, später dann als Coach, habe ich immer wieder beobachtet, dass selbst negativster Dauerstress zur „Komfortzone“ werden kann, einfach nur dadurch, dass er dauerhaft besteht. Aber wie ist so etwas möglich?
Es kommt daher, dass die „Komfort-Zone“ gar nichts mit „Komfort“ zu tun hat, sondern vor allem mit Überleben!
Unser Gehirn ist zuallererst einmal ein Organ (wie z.B. die Leber), auch wenn es einen höheren Rang hat, weil es das Zusammenspiel der Organe und unsere Reaktionen auf Außenreize regelt:
Es wertet ständig die eingehenden Daten aus dem Organismus und der Umwelt aus, um das Überleben des Organismus zu sichern. Gewohnte Situationen – und dazu gehört heute eben oft (negativer) Dauerstress - werden als sichere „Überlebenszonen“ gespeichert und das nur aus einem Grund:
Weil sie schon mehrfach überlebt wurden. Das nennt sich übrigens Gewohnheit.
Die tieferen Regionen unseres Gehirns, die unser Verhalten von uns unbemerkt mitsteuern, signalisieren in diesem Fall: „Hier ist es sicher – geh da wieder hin und bleib da!!“
Die langfristige Schädlichkeit dieser Botschaft wird uns nicht bewusst, weil es sich um keinen sprachlichen Befehl handelt, dessen Unsinnigkeit wir entlarven könnten, sondern um ein subtil ziehendes Gefühl – anders gesagt, um eine Art Sucht.
Ich wurde häufig gefragt, ob da denn nur noch der Ausstieg aus dem Job oder der stressigen Umgebung helfe...
Ganz klar: Nein, das ist nicht (oder nur selten) notwendig und nicht nur das: Es würde gar nichts nützen, weil wir an einem anderen Ort in der gleichen Weise weitermachen würden. Es braucht vielmehr nur den Ausstieg aus unserem „Stammhirnmodus“!
Das allerdings ist eine sehr schwierige Übung, da unser Hirn unter Stress völlig automatisch auf den „Stammhirnmodus“ umschaltet und genau den Bereich blockiert, der sonst bewusstes Wollen und Wählen, sprich selbstmotiviertes Handeln ermöglicht: Das Großhirn (und davon speziell das Frontalhirn)...
Wie gesagt ist das so, weil negativer Stress entwicklungsgeschichtlich immer durch Gefahrensituationen ausgelöst wurde - unser ältester Hirnanteil aktiviert deshalb unter Stress auch heute noch die oben beschriebenen Kampf- oder Fluchtfunktionen.
Naturgemäß lassen diese kein „Nach-Denken“ zu, sondern laufen muster- oder reflexartig ab, damit keine Zeit verloren wird – eine Art Notfallprogramm.
Das heißt also, dass wir uns unter Stress in einem Tunnel befinden, der wenig Handlungsspielraum zulässt.
Und genau deshalb funktionieren die Patentrezepte, die wir doch eigentlich so einleuchtend finden, auch bei großer Anstrengung nur kurzfristig oder gar nicht...
Was können wir also tun?
Zuallererst geht es darum, unser Wollen und bewusstes Wählen so sehr zu stärken, dass es uns hilft, uns selbst zu beschützen. Wir müssen sozusagen einen bewussten Reflex installieren, der das „Dauernotfallprogramm“ stoppt.
Alle Maßnahmen, die ohne diesen scheinbaren Umweg direkt auf der Ebene der Lebensführung, also lediglich an unserem äußeren Verhalten ansetzen (Patentrezepte), reichen nicht aus, denn eine nachhaltige Verhaltensänderung verlangt zunächst eine tiefere Einstellungsänderung.
Nun könnte man vermuten, dass es demnach ausreichen müsse, anders über eine Sache zu denken – mit „positive thinking“ zum Beispiel.
Das stimmt schon, allerdings auch nur dann, wenn diese neue Art zu denken das Ergebnis der Einstellungsänderung ist und nicht der bloße Versuch, Ängste und Panik mit optimistischen Floskeln zu verdrängen, denn dann wird die Rechnung wieder ohne das Stammhirn gemacht!
Was genau ist eine Einstellungsänderung?
Wir kennen die dramatischen Schilderungen von plötzlichen Wendepunkten, ausgelöst durch eine Erweckungserfahrung, im Leben von historischen Persönlichkeiten und manchmal sogar im eigenen Umfeld.
So eine Erfahrung kann zum Beispiel durch einen plötzlichen Perspektivenwechsel entstehen, der einem schlagartig schmerzlich bewusst macht, wie absurd bestimmte Dinge im eigenen Leben sind und wie tragisch es ist, dass man sie dennoch über lange Zeit akzeptiert hat.
So etwas löst heftige Emotionen aus und diese bewirken dann eine neue Verankerung im Körpergedächtnis, die sich später jederzeit wieder abrufen lässt.
Echte Einstellungsänderungen haben ihren Ursprung in jedem Fall in einer tieferen Erkenntnis begleitet von einer emotionalen Berührung.
Erst auf diesem Fundament kann man sich aus dem vielfältigen Angebot der Rezepte diejenigen auswählen, die zu einem passen – und erst dann wird man sie auch nachhaltig anwenden.
In allen Fällen von Überlastungsthematik, die mir im Coaching begegnet sind, stand am Anfang ein Innehalten. Denn Lebensführung hat mit „Führung“ zu tun und die kann man nur übernehmen, wenn man sich selbst und die eigenen übergeordneten Ziele verstanden hat und die augenblickliche Situation durch diese Brille betrachtet.
Die Selbstdisziplin, die zum Erfolg führt, ist daher nicht die des simplen Durchhaltens, sondern die der sauberen Richtungsklärung und Selbstreflexion, denn nur das führt zu einer Steigerung der persönlichen Resilienz.
Das erfordert logischer Weise ein Zurücktreten und eine Betrachtung aus der Distanz.
Es beginnt mit der Klärung von Fragen wie:
„Was ist mir wirklich wichtig – Wonach sehne ich mich – Wie viel davon kommt in meinem heutigen Leben tatsächlich vor – Wie/wer bin ich, wenn ich meinen Werten treu bleibe – Wie bin ich im Vergleich dazu jetzt - Was hindert mich/ was hilft mir, meine Werte für mich durchzusetzen – Was genau muss/werde ich tun...“
Das klingt einfacher als es ist. Es braucht fast immer einen neutralen, ruhigen Ort und einen empathischen, wenngleich fordernden Sparring, der oder die sicherstellt, dass man aus dem Tunnel herauskommt und nicht vor den Mauern im Kopf aufgibt.
Die gute Nachricht: Schon diese Arbeit an sich macht richtig Spaß, denn dadurch verschwindet das Gefühl der Ausweglosigkeit und die Lebensfreude wird sofort gestärkt!
Handwerkszeug eines solide ausgebildeten und seriös arbeitenden Coaches ist eine bunte Vielfalt an Methoden, die den Klient:innen innere, nicht bewusst wahrgenommene Vorgänge sichtbar und ihrem eigenen Einfluss zugänglich machen. Gute Coaches verfolgen dabei keine eigene Agenda – Ziel ist ausschließlich, dass die Klient:innen einen neuen Umgang mit der alten Situation finden.
Das bedeutet in Bezug auf Stress zum Beispiel, dass sich das Ich auch im Alltag erlaubt, regelmäßig Fragen wie diese zu stellen:
„Wie geht es mir im Moment – ist alles gut oder muss ich etwas ändern, wenn ja: „Was sagen meine Werte – woran genau muss ich etwas ändern? Und was sagen meine Träume - wofür werde ich es tun? Und was rät mir mein entspanntes Ich - wie soll ich es tun?“
Und vor allem, dass die Antworten darauf dann auch handlungsleitend sind.
Erst wenn wir das können, haben wir tatsächlich die Führung in unserem Leben übernommen und können wieder kreativ sein – und dann können uns auch zu uns passende Rituale zur Selbstberuhigung aussuchen.
Ich liste hier einige der methodischen Möglichkeiten auf, wie wir uns, wenn die tiefere Erkenntnis da ist, in Stress-Situationen selbst beruhigen können.
Ich fange gleich mal mit einem ganz persönlichen an, weil es so schön schlicht ist:
Viel Erfolg.
Und solltest du Unterstützung beim Aufbau deiner Stressbewältigungs-Haltung brauchen, dann schau dir doch mal unsere Life Orientation & Navigation-Journey oder unsere Balance & Vitality Journey an.
* AOK: Fehlzeiten Report 2023
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