Healthism - Wie Social Media unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit beeinflussen

Dr. Cristina Barth Frazzetta
Co-Founder, COO & Head Coach Life Orientation & Navigation
Inhaltsverzeichnis:
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Der Zwang, gesund zu sein

Den Begriff Healthism gibt es bereits seit den 1980er Jahren.

R. Crawford*, ein Gesundheitssoziologe, benannte damit erstmals ein von ihm beobachtetes Phänomen, nämlich die Überhöhung und Individualisierung des Gesundheitsbegriffs.

Anders ausgedrückt, Gesundheit wurde mehr und mehr zur ultimativen Metapher für ein gutes Leben und die Verantwortung dafür trug mehr und mehr das Individuum selbst.

So sehr ich als Ärztin für die Übernahme von Selbstverantwortung von Patienten für ihre Genesung oder auch schon ihr Gesundbleiben plädiere, so sehr bin ich zugleich gegen die Verlagerung der gesamten Verantwortung ins Private.

Zwar ist ohne Selbstverantwortung die ärztliche Intervention viel weniger wirksam, wenn nicht sogar unwirksam, aber die Übertreibung dieser Einstellung lenkt von gesellschaftlichen und systemischen Einfluss-Faktoren ab und führt so zu Stigmatisierung, Schuldzuweisung und Ausgrenzung.

Verglichen damit waren die bösen Geister, von denen Kranke in der Zeit magischen Denkens befallen wurden, geradezu gnädig für die Betroffenen, denn dafür konnten sie wenigstens nichts.

Healthism ist die Auswirkung dieser Verantwortungsverschiebung und kann am ehesten mit Gesundheitswahn übersetzt werden.

Und wie es so ist mit einem Wahn: Einmal von ihm ergriffen, nehmen wir ihn selbst nicht mehr wahr, sondern halten ihn für normal und alles andere für verrückt...und unsere Gesellschaft hat die vor 45 Jahren von R. Crawford beschriebene Entwicklung nicht gestoppt – im Gegenteil!

Krankheit und Befindlichkeit – zwei Paar Schuhe

Sich gut zu ernähren, aktiv zu sein, auch den Geist zu fordern, trotzdem genug zu ruhen und Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen – kurz gesagt, gesund und verantwortungsbewusst zu leben, ist selbstverständlich gut.

Und doch: Wo fängt das an und wo hört es auf?

Ständige Selbstbeobachtung, sei es durch eigenes Dauermonitoring („Bin ich noch ok?!“), durch Tracker oder gar Screenings trennen uns sozusagen ab vom organischen Zusammenleben mit unserem Körper, machen ihn zu einer Maschine und uns zu außenstehenden Beobachter:innen, die deren Funktionsweisen kritisch beurteilen.

Natürlich sind diese Methoden und Verhaltensweisen absolut sinnvoll, wenn man zum Beispiel eine chronische Stoffwechsel-Erkrankung wie Diabetes, eine Schilddrüsen-Funktionsstörung oder einen hohen Blutdruck hat. Nicht sinnvoll ist es, durch deren Nutzung erreichen zu wollen, dass sich unser Körper ständig wohlbefindet.

Vielleicht hilft ein einfaches Beispiel: Hunger, Durst und Müdigkeit. Alle drei sind keine angenehmen Empfindungen und doch sind sie keine Krankheit, sondern Signale.

Unser Körper ist ein sogenanntes halboffenes System, das ständig bestrebt ist, alle Bestandteile für chemische Prozesse und Abläufe in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten.

Das bedeutet, dass er immerzu daran arbeitet, weitgehend konstante Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die Betonung liegt dabei auf „weitgehend“, denn ein halboffenes System ist für die Verrichtung seiner Aufgaben auf bestimmte Umgebungsverhältnisse und die Zufuhr bestimmter Grundsubstanzen von außen angewiesen.  

Wir können uns daher gar nicht ununterbrochen gleich gut fühlen.

Gleichzeitig aber ist unser Körper ein faszinierend gut funktionierendes Meisterwerk, das sich in den meisten Fällen – sogar dann, wenn es Defekte aufweist – erstaunlich gut selbst reguliert. Dazu gehört auch, dass es uns durch deutliche Signale wie Hunger, Durst und Müdigkeit fühlen lässt, dass uns etwas fehlt, was das System gerade braucht. Nie kämen wir auf die Idee, das zur Krankheit zu erklären, oder?

Denn eine Krankheit besteht dann, wenn das System Körper in seiner Funktionsweise gestört ist.

Macht Healthism krank? Eine Hypothese  

Manchmal frage ich mich, ob diese Fixierung auf das Thema Gesundheit – zumindest in seiner Übertreibung nicht sogar das Wohlbefinden schmälert, denn wir werden auf gewisse Weise immer hypochondrischer.

Der Grund ist, dass wir, wie gesagt, scheinbar die alleinige Verantwortung für unsere Gesundheit tragen.  Wenn das so ist, müssen wir die komplexen körperlichen Prozesse im Griff behalten und wie soll das gehen, wenn nicht durch eine dauerhafte „Hab-Acht-Haltung“?

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese angstvolle Observation erheblichen Stress auslöst, zumal schon die Alleinverantwortlichkeit schlicht überfordernd ist und die Überbewertung von kleinsten Schwankungen im System sehr verunsichert.

Paradoxerweise entstehen so womöglich sogar mehr Krankheiten, denn  

  • erstens macht der Stress an sich krank, weil er zur Dys-Balance wichtiger regulatorischer Hormone führt
  • zweitens machen manche der von uns erdachten „Gesundheits-Maßnahmen“ ebenfalls krank statt gesund
  • drittens versehen wir als Gesellschaft bestimmte Befindlichkeiten mit Krankheits-Labeln

Definitionen von Gesundheit und Krankheit sind Modeerscheinungen

Ich habe den Eindruck, dass selbst kleinere negative Empfindungen heute viel zu schnell einen Krankheitsstempel erhalten, ja, dass wir etwas lieber als Krankheit bezeichnen als uns einzugestehen, dass wir uns einfach mal nicht top fühlen.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, das körperliche Symptome aus gesellschaftlichen, systemischen Gründen entweder plötzlich mehr gesehen werden oder mehr „gelebt“ werden. Grund dafür kann sein, dass Menschen einer körperlichen oder seelischen Befindlichkeit unbewusst stärkeren Ausdruck verleihen, damit sie anerkannt wird und so in den Schutzraum Krankheit gelangt.

In jedem Fall aber gab es dafür ein „Vorbild“, wie bei einer Mode, es wird häufig davon gesprochen, es gibt Beispiele in der Bekanntschaft, Ärzt:innen untereinander tauschen sich darüber aus und verstärken ihre Wahrnehmung für bestimmte Symptome und deren Einordnung.

Als Beispiel können wir die sogenannte Hysterie nehmen: Über Jahrhunderte wurde sie zur pathologisierenden Beschreibung unterschiedlichster Symptome und wechselnder Symptom-Pakete benutzt bis sie endlich 1952 in USA und in den 1980ern (!) in Deutschland aus dem Katalog der medizinischen Termini gestrichen wurde.

Versteht mich nicht falsch: Die betroffenen Personen leiden wirklich und das muss ernst genommen werden. Ich glaube nur, dass sie weniger leiden müssten, wenn eben diese Zuschreibungen nicht entstünden und vielmehr nach den Hintergründen geschaut würde.

Denn schließlich entstehen nicht nur Krankheitsbilder-Hochs, sie verschwinden auch wieder!

Was haben nun die Socials mit alledem zu tun?

Was Robert Crawford nicht ahnen konnte, dass es einige Jahrzehnte nach seinem wissenschaftlichen Artikel Social Media geben würde und dass diese das Phänomen Healthismus, das er als eine Form der „Medikalisierung des Alltagslebens“ betrachtete, in einer damals ungeahnten Weise befeuern würden.

Gesundheitsratschläge aller Art machen die Runde, Live-Beschreibungen des eigenen Leidens und wie damit umzugehen sei, die alle durch die „Authentizität“ des Persönlichen autorisiert sind und dadurch wahr scheinen.

Denn, wie der Schriftsteller Daniel Glatthauer** in einem seiner Bücher so treffend sagt: „Was das Netz einmal suggeriert, ist praktisch nicht mehr von der Hand zu weisen...“.

Die selbsternannten Ratgeber:innen kreieren eine riesige Zahl an Followern und beflügeln deren Fantasie, bei sich selbst schon kleinste Anzeichen wahrzunehmen und ängstlich zu deuten.

Gesundbleiben wird zur Mega-Anstrengung, zumal die Ratschläge wechseln, beziehungsweise immer neue hinzukommen...

Das Bedauerliche daran ist, dass viele von uns damit viel zu viel Lebenszeit verbringen und dadurch nicht mehr, sondern womöglich weniger Wohlbefinden erlangen!

Besonders schlimm ist aber, dass das Streben nach allgemeinem Wohlbefinden mehr und mehr zu einer privaten Angelegenheit wird, anstatt dass wir es als gesellschaftliche Aufgabe begreifen, die darin besteht, die Rahmenbedingungen für echtes Wohlbefinden zu schaffen.

Diese Atmosphäre erzeugt noch ein Paradoxon:

Immer häufiger wird eine „echte, behandlungsbedürftige“ Krankheit zum einzigen Schutzraum, in dem es erlaubt ist, zu leiden, ohne dem ständigen Druck, selbst etwas dagegen tun zu müssen, ausgesetzt zu sein... Welche Implikationen das hat, kann man sich vorstellen.

Fazit und 4 Tipps

In einer Welt, in der Gesundheit zu einem TÜV-Siegel des persönlichen Erfolges wird, steigt die Aufmerksamkeit für das Thema in überzogenem Maße an. Folglich bemüht sich der einzelne Mensch ununterbrochen, sich selbst zu überwachen und an dem Thema zu „arbeiten“.

Diese Haltung verlagert nicht nur die Verantwortung für Wohlbefinden mehr und mehr ins Private, sie erzeugt außerdem auch ein höheres, statt ein reduziertes Stress-Niveau.

  • Frag dich 3-Mal am Tag: „Bin ich mit meinen Gedanken dort, wo mein Körper ist?“
    • Diese einfache Achtsamkeitsübung führt dich sofort zurück ins Hier-und-Jetzt
    • Dein Körper dankt dir allein das bereits mit einer Absenkung des Stresshormons Cortisol im Blut
  • Dann horch in Dich hinein und stell dir die Anschlussfrage: „Was fehlt mir in diesem Moment?“
    • Meist erhältst du dann eine Antwort wie: ‚ein Glas Wasser; frische Luft; etwas Bewegung; ein Power-Napp; eine Pause‘ oder Ähnliches. Wenn du dir diese kleinen Wünsche erfüllst, geht es dir sofort besser
    • Sollte die Antwort lauten ‚eine Auszeit‘, dann solltest du ernsthaft darüber nachdenken, was du tun kannst oder musst, um deine Belastung zu reduzieren und deinen Energie-Level anzuheben
  • Bereite dir mindestens eine Mahlzeit am Tag selbst zu (kann auch kalt sein)
    • Achte dabei darauf, was du gerade tust
    • Verwende möglichst wenig vorgefertigte Bestandteile, sondern ‚Rohstoffe‘
    • Nimm dir Zeit, bewusst zu essen und zu genießen, das dauert in Minuten gerechnet nur wenig länger als zu schlingen, fördert aber die Sättigung und die Verarbeitung der Nährstoffe
  • Such dir eine Sportart, die dir Freude macht, denn nur dann bleibst du auch dran
    • Finde heraus, welches für dich die beste Tageszeit ist und zwar nicht nach dem Kalender, sondern danach, wann deinem Körper die Leistung am leichtesten fällt
    • Mach anfangs lieber weniger und dafür öfter und mach es vor allem regelmäßig, damit eine Gewohnheit entsteht und dein Körper schließlich selbst danach verlangt

Fang einfach mit diesem kleinen Programm an, es hilft dir im Alltag.

Vergiss aber bitte dennoch nicht, zu Vorsorge-Untersuchungen zu gehen.

Auch ein crimalin Health Coaching  kann dich bei speziellen Fragen auf deinem Weg zu echtem persönlichem Wohlbefinden unterstützen.

_________________________________________

*Robert Crawford, Gesundheitssoziologe, 1980, "Healthism and the Medicalization of Everyday Life"

**Daniel Glattauer

Literatur

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