Silke Strauß
Executive Coach & Autorin
Es gibt einen weiteren Ausspruch von Klient.innen, der mich sehr alarmiert und der lautet: “Ich weiß nicht, wie ich das alles hinkriegen soll, aber irgendwie muss es gehen…“
Mein Klient saß völlig abgespannt und müde vor mir. Es war unübersehbar, dass er ziemlich am Ende seiner Kräfte war. Gerade hatte er über die fortschreitende ernsthafte Erkrankung seiner Frau berichtet und was dadurch alles im normalen Familienalltag nicht mehr funktioniert. Gleichzeitig leitete er beruflich ein großes und wichtiges Team gerade zu einem Zeitpunkt, der viel Vorstandsaufmerksamkeit genoss, da es um die Erweiterung von Neugeschäft ging.
Ich kannte meinen Klienten als Workaholic mit viel Energie und hoher Wirkkraft weit über seinen eigenen Bereich hinaus. Er genoss das Vertrauen seiner Vorstände ebenso wie das seiner Mitarbeiter und er hatte in der Vergangenheit schon einige Kohlen für das Unternehmen aus dem Feuer geholt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Deswegen lotete ich die Chancen mit ihm aus, wie er sich kurzfristig Zeitfenster für die Unterstützung seiner Frau in einer Notsituation sichern könnte. Denn er hatte sich vorgenommen, sowohl die private Notsituation als auch die berufliche Herausforderung gleichzeitig gut zu bewältigen.
Zu effektivem Arbeitseinsatz braucht es in der Regel einen starken Willen. In meiner jahrelangen Erfahrung als Headhunterin bestätigte sich immer wieder: Der Wille eines Kandidaten ist mehr als die halbe Miete. Willenskraft stellen wir uns oft als unerschöpfliche Quelle vor, die uns befähigt, all unsere Ziele zu erreichen und Herausforderungen zu meistern. Gerade High Performer tendieren dazu, ihre physischen, aber auch die psychischen Kräfte zu überschätzen. Tatsächlich ist Willenskraft eine begrenzte Ressource, die sich nicht zuletzt auch mit der Zeit verbraucht.
Das Prinzip des Willens ist ähnlich wie ein Muskel beim Sport: um einen nachhaltig wirksamen Effekt zu erlangen, muss die Belastungsintensität hoch genug sein und über die einzelnen Einheiten auch immer wieder etwas gesteigert werden. Dann reagiert der Körper und baut Muskeln auf oder eben auch den Willen. Aber eine Tatsache ist genauso essenziell: Muskeln wachsen nicht im Training, sondern in der Ruhephase. In dieser Regenerationszeit tankt der Körper Kraft, um optimal auf die nächste Einheit vorbereitet zu sein.
Genauso wie die Erholung im Sport die wichtigste Ergänzung darstellt, ist sie auch für die Willenskraft unerlässlich. Studien zeigen, dass unser Wille sich verringert, wenn wir ihn über einen längeren Zeitraum hinweg (über)beanspruchen oder zwanghaft aufrechterhalten wollen. Dann tritt Erschöpfung auf, weil unser Gehirn dafür viel Energie benötigt. Und genau wie unser Körper beim Muskelaufbau braucht auch unser Wille Zeit, um sich zu erholen und wieder aufzuladen.
Manchmal lautet die Frage eben: Was geht gerade jetzt noch? Oder auch: Wie komme ich gesund an mein Ziel?
Im Falle meines Klienten schlug ich vor, dass er seine Arbeitszeit um mindestens einen, besser zwei Tage in der Woche reduziert und diese für die volle Unterstützung seiner Frau nimmt. Seine erste Reaktion war: „Völlig undenkbar ist das, bei uns kann man als Führungskraft nicht Teilzeit arbeiten.“ Es ging dann aber doch. Er war als langjähriger High Performer bei seinem Vorstand gut verankert. Und die Situation war eine Ausnahme. Das war auch seinem Vorstand klar.
Erholung ist die wichtigste Ressource für Muskeln und für unsere Willenskraft. Wenn der Körper diese Möglichkeit der Regeneration nicht erhält, wird es zu Gegenreaktionen kommen. Wenn wir über unsere Ressourcen hinweg gehen, nehmen wir das Risiko in Kauf gute Kompetenzen dauerhaft zu beschädigen. Eine ständige Doppelbelastung, wie die geschilderte, kann kein Mensch über lange Zeit ertragen. Und gerade, wenn es schwierig wird, sollte dem Thema Erholung und Pause mit diesem Wissen umso sorgfältiger Beachtung geschenkt werden.
Ein hilfreicher weiterer Effekt bei meinem Klienten war das Verständnis im Kollegenumfeld, das er über die Offenlegung seiner Umstände gewinnen konnte. Und sein schlechtes Gewissen konnte so auch ausbleiben.
Wenn wir lernen, unsere Grenzen zu akzeptieren und mit unseren Ressourcen als einem endlichen Gut umzugehen, stärken wir unsere Willenskraft, weil wir uns selbst Respekt entgegenbringen. Dafür braucht es manchmal ein klares „Nein“ oder auch das klärende Gespräch mit Vorgesetzten. Du glaubst, das kann nicht funktionieren? Dann lass dich wie mein Klient positiv überraschen – in der Regel wird einem nämlich weit mehr Verständnis entgegengebracht als man selbst vermutet hätte.
Unsere Gast-Autorin Silke Strauß
Executive Coach, Autorin und Referentin, fokussiert auf Topführungskräfte in Konzernen und mittelständischen Wirtschaftsunternehmen, politischen und sozialen Organisationen, einzeln oder Leitungsteams auch in schwierigen Situationen, www.strauss-ecexutive.de.
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