Dr. Cristina Barth Frazzetta
Co-Founder, COO & Head Coach Life Orientation & Navigation
Als Jugendliche erlebte ich in der Zeit des Vietnam-Krieges zum ersten Mal filmisch untermauerte Kriegsreportagen. Der Fernseher hatte auch bei uns Einzug gehalten und jeden Abend brachten die Nachrichten Bilder aus einer exotisch-fremden vom Krieg und seinen Grausamkeiten gezeichneten Welt. Menschen litten und Menschen starben quasi vor unseren Augen.
Anfangs war ich davon so geschockt, dass ich weinen musste und nicht länger hinsehen konnte. Ganz allmählich verlor der allabendliche Horror jedoch seinen Schrecken, wurde zu etwas Normalem, ja, sogar fast zu etwas „Langweiligem“.
Ich weiß heute noch, dass ich diese Veränderung an mir sehr bewusst wahrnahm und dass ich sie unheimlich fand: Ich konnte das Leid der anderen nicht mehr empfinden und verstand nicht, warum...
Ich vermute, dass viele, die das lesen, dieses Phänomen kennen, gerade jetzt, wo die Welt an so vielen Stellen brennt.
Heute weiß ich natürlich, dass die Abstumpfung, wie wir sie in derartigen Situationen erleben, eine Art Selbstschutz ist, der insbesondere dann einsetzt, wenn wir keinerlei direkten Einfluss nehmen können und uns ohnmächtig fühlen.
Übersetzt in psychophysiologische Begriffe bedeutet es, dass wir uns entweder im Flucht-Modus (abwenden; schwarz-weiß-/ gut-böse-Erklärungen) oder sogar im Totstellreflex (sich verstecken, Empfindungen auf null fahren) befinden. Diese alten Programme steuern uns bei emotionaler Überforderung, insbesondere wenn wir keine durch uns selbst herbeizuführenden Lösungen erkennen können.
Wären wir selbst mitten drin - was hoffentlich nie geschehen möge – würde vermutlich eher der Fight-Modus greifen, der uns ein Gefühl der Selbstwirksamkeit gibt uns die Bedrohung mitunter sogar vergessen lässt. Viele Menschen wachsen dann über sich selbst hinaus, finden Wege, halten durch, retten andere oder kämpfen im wörtlichen Sinne, auch wenn das nicht ihrem Charakter entspricht.
Die tragischen Ereignisse in Kriegsgebieten und bei Flucht-Migrationen stressen uns ganz offensichtlich und führen, wie gesagt, nach einiger Zeit allzu oft zu innerer Abkehr. Subtiler verhält es sich in unserem, scheinbar so sicheren Alltag. Denn auch hier wird das Phänomen sinkender Empathie beobachtet. Wie kommt das?
In unserer modernen Gesellschaft scheinen Druck und Stress, denen wir ausgesetzt sind, ständig zu steigen. Die Beschleunigung des Lebens, die Hektik und Arbeitsverdichtung im Beruf, die ständige Erreichbarkeit durch digitale Medien - all das trägt dazu bei, dass wir uns in einem Dauerzustand der Anspannung befinden. Vor allem letztere, die Medien, erzeugen schon allein durch die schiere Masse an Informationen Druck. Aber auch die sensations-orientierte Fokussierung auf negative Nachrichten bewirkt, dass wir uns ständig Sorgen machen und womöglich sogar Ängste entwickeln.
Das kann dazu führen, dass wir die schönen Aspekte und Momente in unserer direkten Umgebung, unserer eigenen Realität nicht mehr ausreichend wahrnehmen, obwohl das nährend für unser mentales Befinden wäre.
Insbesondere die sozialen Medien, tragen außerdem dazu bei, uns in einen Dauerzustand des Wettbewerbs zu versetzen. Uns ständig mit anderen Menschen und deren scheinbar großartigem Aussehen, toller Performance, kurz deren perfektem Leben zu vergleichen, erzeugt weiteren (unnötigen) Druck und Stress1.
Doch dieser ständige Stress hat nicht nur Auswirkungen auf uns selbst, sondern auch auf unser Verhalten und unsere Gefühle gegenüber anderen Menschen.
Studien2 zeigen dass Menschen, die unter Stress stehen, weniger mitfühlend sind als Menschen, die entspannt sind. Sie haben darüber hinaus eine höhere Tendenz zu Aggression und Feindseligkeit.
Forschende3 untersuchten zum Beispiel die Auswirkungen von Stress auf das Verhalten von Verkäufern in einem Callcenter und stellten fest, dass die Verkäufer unter Stress weniger erfolgreich waren, weil sie weniger geduldig und weniger einfühlsam gegenüber den Kunden waren.
Diverse weitere Studien bestätigen, dass Menschen, die häufig unter Stress stehen, ein geringeres Maß an Empathie gegenüber anderen Menschen aufweisen und schneller zu Aggression und Gewalt neigen.
All das liegt daran, dass nicht nur lebensgefährliche Situationen, sondern auch diese Art von Stress eine "Fight or Flight"-Reaktion auslöst - dieses automatisch ablaufende körperlich-mentale Programm bei Bedrohungen. Dieser Modus zwingt uns, uns zuallererst auf uns selbst und auf die Bewältigung der Bedrohung zu konzentrieren, anstatt auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen einzugehen.
Alle Studien deuten darauf hin, dass der steigende Stress in unserer Gesellschaft ein ernstes Problem darstellt, das nicht nur Auswirkungen auf unsere körperliche und mentale Gesundheit hat, sondern auch auf unser Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen, also unserem sozialen Umfeld: Unser Mitgefühl schwindet, während unsere Reizbarkeit steigt.
Es ist daher wichtig, dass wir uns bemühen, uns selbst und andere vor diesen Auswirkungen zu schützen, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten, aber auch um als einzelne Person glücklicher zu sein.
Es ist wichtig zu erkennen, dass der steigende Stress in der Gesellschaft nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem ist. Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Menschen, aber auch in der Verantwortung von Unternehmen und Regierungen, sicherzustellen, dass wir in einer Umgebung leben können, die uns Raum lässt zu entspannen und uns um unsere mentale Gesundheit zu kümmern, damit sich unsere Leistungsfähigkeit voll entfalten kann und unsere Beziehungen zu anderen Menschen erblühen können.
Um der persönlichen Verantwortung gerecht zu werden, müssen wir uns Zeit zur Reflexion nehmen. Das fällt nicht immer leicht und ein Coaching kann dabei sehr hilfreich sein. In unseren crimalin Journeys findest du kompetente und lebensnahe Unterstützung.
Je nachdem, wo sich der Hauptstress bei dir manifestiert, kannst du zwischen diesen drei Schwerpunkten wählen:
Balance & Vitality bei mental-physischen Fragen
Life Orientation & Navigation bei Fragen nach den eigenen Werten und Lebens-Zielen
Business und Career Impact bei Fragen zur Bewältigung beruflicher Herausforderungen
Studien5 belegen, dass sogar Kinder und Jugendliche, die unter Stress leiden, ein geringeres Maß an Empathie und Mitgefühl gegenüber anderen Menschen aufweisen. Sie haben ein höheres Risiko, Probleme mit emotionaler Regulation und sozialer Interaktion zu entwickeln. Dies kann langfristige Auswirkungen auf ihre sozialen Beziehungen und ihre Fähigkeit haben, erfolgreich in der Gesellschaft zu agieren.
Es ist daher wichtig, dass wir uns bemühen, die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche zu verbessern, indem wir ihnen helfen, besser mit Stress umzugehen und sie dazu ermutigen, Empathie und Mitgefühl zu entwickeln.
Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist die Förderung von Bildungsprogrammen, die auf die Entwicklung von emotionaler Intelligenz und sozialer Kompetenz ausgerichtet sind. Ein Beispiel hierfür wäre die Einführung von Programmen wie "Mindfulness" oder "Emotional Intelligence" in Schulen.
1, Hübscher, M. (2022). Digitaler Stress? Ressourcen und Belastungen durch Smartphones.
2, Nitschke, J. P., & Bartz, J. A. (2022). The association between acute stress & empathy: A systematic literature review. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 105003.
Hapke, U., Maske, U., Scheidt-Nave, C., Bode, L., Schlack, R., & Busch, M. (2013). Chronischer stress bei Erwachsenen in Deutschland.
3, Staiger, Tobias. Arbeitsbedingter Stress in Callcentern: eine empirische Analyse aus Gender-Perspektive. Springer-Verlag, 2015.
4, Dapp, U. (2008). Gesundheitsförderung und Prävention selbständig lebender älterer Menschen: eine medizinisch-geographische Untersuchung. W. Kohlhammer Verlag.
5, Birnie, K., Speca, M., & Carlson, L. E. (2010). Exploring self‐compassion and empathy in the context of mindfulness‐based stress reduction (MBSR). Stress and Health, 26(5), 359-371. Grottke, J. (2021). Der Zusammenhang zwischen Stress, Coping und Empathie.
6, Ulli-Amstutz, J. (2011). Schulischer Stress bei Kindern und Jugendlichen: Entstehungsbedingungen, Erscheinungsbild, Bewältigungsmöglichkeiten und Prävention.
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