Dr. Cristina Barth Frazzetta
Co-Founder & COO
Direkt übersetzt bedeutet das japanische Wort „Ikigai“ Leben (Iki) und Sinn (Gai): Lebenssinn. Aber wie so häufig steckt hinter einem japanischen Begriff nicht nur eine Wortbedeutung, sondern eine ganze Philosophie. Menschen, die in der japanischen Kultur aufgewachsen sind und durch sie geprägt wurden, können das gesamte Weltverständnis, das in der Kombination dieser zwei Wörter verdichtet ist, fühlen. Es geht dabei in einem umfassenden Sinne um das Führen eines lebenswerten Lebens oder auch darum „wofür es sich zu leben lohnt“.
Die Ikigai-Philosophie wird insbesondere von den Bewohnern der japanischen Inselgruppe Okinawa gelebt. Ihr tiefes Verständnis des Ikigai wird neben anderen Faktoren, wie der Ernährung, als eine der Ursachen für ihre außergewöhnliche Langlebigkeit angesehen.
Bevor wir uns also mit der Anwendung dieser Philosophie auf uns selbst befassen, sollten wir noch etwas besser verstehen, was genau gemeint ist. Auch wenn wir als westlich geprägte Menschen am liebsten ein sofort umsetzbares „Ikigai-Konzept“ zur Optimierung unseres Alltags hätten. Aber keine Sorge, da kommen wir später auch noch hin.
Für die Japaner ist Ikigai das, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Sie gehen davon aus, dass nur wer das für sich entdeckt hat und pflegt, ein gesundes, langes und vor allem erfülltes Leben führen wird.
Dr. Ken Mogi, japanischer Neurowissenschaftler und Buchautor, erklärt in seinem Buch „Ikigai“ die fünf Säulen auf denen diese Lebenseinstellung basiert:
Abbildung: Die fünf Kernthemen des Ikigai nach Ken Mogi (Eigene Darstellung nach Mogi, 2020)
Dieses umfassende Verständnis von der Ikigai-Philosophie bildet die Basis eines erfüllten Lebens. Sie fordert von uns Einstellungen, die, wenn wir sie täglich auf’s Neue (aus-)üben, eine Art Kompass sind bei der Suche nach einer sinngebenden Aufgabe, die uns morgens freudig aufstehen lässt.
Damit Ikigai auch bei der beruflichen Tätigkeit entstehen kann, sollten wir uns zunächst vier Fragen stellen:
Abbildung: Die vier Bereiche des Ikigai (Eigene Darstellung nach Miralles & García, 2017)
Zum ersten Bereich gehören die Dinge, die wir wirklich gut können. Das sind häufig erlernte oder von anderen übernommene Dinge, da man mit viel Übung fast alles erlernen kann. Wichtig ist, dass es hierbei nicht zwingend um Dinge gehen muss, mit denen man Geld verdienen kann. Fragen, die wir uns in diesem Kontext stellen können, wären z.B.:
Im zweiten Bereich geht es um die Dinge, die wir wirklich von Herzen tun. Diese sind vor allem deswegen interessant, weil man bei Dingen, die man liebt, mit der gleichen Anstrengung, die man in Dinge steckt, die man für andere erlernt, ein deutlich besseres Ergebnis erzielen kann. Hier geht es nicht nur um reine Arbeitsinhalte, vielmehr können Aspekte aus sämtlichen Lebensbereichen genannt werden. Auch hier geht es erstmal nicht darum, ob man mit diesen Tätigkeiten Geld verdienen kann. Um diese Dinge zu herauszufinden, können wir uns z. B. folgende Fragen stellen:
Der dritte Bereich bezieht sich vor allem auf unsere Werte und darauf, wie wir persönlich die Welt ein kleines bisschen besser machen könnten. Hierzu können wir uns folgende Fragen stellen:
Im letzten Bereich geht es darum, mit welchen Tätigkeiten oder Dingen wir Geld verdienen können. Fragen zu diesem Bereich könnten z.B. sein:
Es ist sinnvoll, die verschiedenen Bereiche zunächst getrennt zu betrachten. Das Unterscheiden der Bereiche ist insbesondere deshalb wertvoll, weil dadurch deutlich wird, dass Dinge, die wir gut können, nicht zwingend die Dinge sind, die wir auch wirklich lieben. Um aber unser persönliches Ikigai zu finden, müssen wir schauen, wo sich die Bereiche überschneiden. Dort wo sich die einzelnen Bereiche überschneiden, zeigen sich jeweils verschiedene übergeordnete Grundbedürfnisse:
Leidenschaft ist die Schnittmenge der ersten beiden Bereiche, also der Dinge, die man von Herzen gerne tut und dem worin man gut ist. Die dazugehörige Frage ist: Worin bin ich richtig gut und was davon tue ich auch noch richtig gerne?
Aufgabe
Dort, wo der zweite und der dritte Bereich zusammentreffen, liegt die Aufgabe. Hier treffen interne und externe Aspekte zusammen, also Dinge, die man selbst liebt und Dinge, die die Welt gebrauchen kann. Hier können wir uns die Frage stellen: Was tue ich von Herzen gern, wovon die Gesellschaft bzw. die Welt profitieren würde?
Die Berufung liegt dort, wo der dritte und vierte Bereich aufeinandertreffen. Sie ist also die Schnittmenge aus den Dingen, die die Welt gebrauchen könnte und dem womit man Geld verdienen könnte. Die sinnbildliche Frage hier ist: Wie könnte ich die Welt ein Stückchen besser machen und gleichzeitig damit Geld verdienen?
Als letztes steht der Job für die Schnittmenge aus dem worin wir gut sind und dem womit wir Geld verdienen können. Hier könnte man sich die Frage stellen: Was kann ich überdurchschnittlich gut, wofür ich Geld verlangen könnte?
Dort, wo sich alle vier Bereiche überschneiden und gleichzeitig die verschiedenen Grundbedürfnisse aufeinandertreffen, liegt das persönliche berufliche Ikigai.
Um also das persönliche Ikigai zu finden, muss man tief in seinem Inneren forschen. Man sollte sich intensiv mit den vier genannten Bereichen beschäftigen und schauen, mit welchen persönlichen Inhalten diese gefüllt werden können. Das Prinzip des Ikigai geht übrigens davon aus, dass wir alles, was wir dazu brauchen, bereits in uns haben. Es geht also vor allem darum, sich diese Dinge bewusst zu machen. Manchmal reichen übrigens schon kleine Veränderungen, die etwas anstoßen, was dann eine große Wirkung entfaltet.
Beim Ikigai geht es darüber hinaus auch darum loszulassen, was man nicht will und nicht nur darum, sich auf das zu fokussieren, was man möchte.
Ikigai ist eine Lebenseinstellung, die wir dauerhaft trainieren sollten, denn man kann sie nicht einfach einmal für immer erlernen – der Zustand kann ganz schnell wieder verlorengehen.
Praxistipps:
Nimm dir ausreichend Zeit zum Bearbeiten der verschiedenen Bereiche. Dies ist keine Aufgabe, die du sofort vollständig erledigen kannst. Es ist deutlich effektiver, wenn du dich mehrmals und zu verschiedenen Zeitpunkten damit beschäftigst. So entstehen mehrere „Schichten“ und es gibt nicht nur eine Momentaufnahme. Die Dinge, die bei verschiedenen Sitzungen immer wieder auftauchen, sind übrigens von besonderer Bedeutung.
Wichtig ist, dass du versuchst, die Bereiche ehrlich auszufüllen. Dabei geht es nicht darum, die Inhalte direkt auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen. Versuche einfach, kreativ und fantasievoll zu sein und sämtliche Gedanken aufzunehmen, ohne die Inhalte gleich zu bewerten. Ehrliche Selbstreflexion ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass derart intensive Auseinandersetzungen mit sich selbst allein oft schwerfallen. Ein Orientierungs-Coaching bietet dann einen guten Rahmen, in dem Perspektivenwechsel ermöglicht und blinde Flecken aufgelöst werden, so dass die echten eigenen Bedürfnisse entdeckt werden.
Obwohl Ikigai aus der japanischen Kultur kommt, hat das Prinzip mittlerweile in vielen westlichen Kontexten Aufmerksamkeit erweckt.
Ikigai kann als eine stärkende Alltagsphilosophie dienen. Vor allem in kritischen Lebenssituationen oder Umbrüchen im Privatleben, wie z.B. einer Trennung kann Ikigai helfen, sich neu zu orientieren. Insgesamt ist Ikigai für die Persönlichkeitsentwicklung und die Suche nach einem Sinn im eigenen Leben von großem Nutzen.
Ikigai kann darüber hinaus auch im Unternehmens- und Berufskontext hilfreich sein. Im Zusammenhang mit Führung kann Ikigai zum Beispiel für die Bereiche Motivation und Soziale Fähigkeiten genutzt werden. Auch ganze Organisationen können im Hinblick auf Ikigai analysiert werden.
Jeder Mensch kann sein Ikigai finden und da jedes Unternehmen aus einzelnen Menschen besteht, kann ein Unternehmen eine Art „Gesamt-Ikigai“ haben, dass aus den Ikigais der einzelnen Menschen gebildet wird. Ein Unternehmens-Ikigai ist ähnlich einer Unternehmens-Vision, allerdings geht es dort meist nur um finanzielle Aspekte und um Zukunftspläne. Beim Unternehmens-Ikigai wird gleichzeitig in die Zukunft geschaut und im präsenten Moment gelebt, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob das Handeln in der Gegenwart den Unternehmenswerten entspricht. Ikigai kann also genutzt werden um die Unternehmensphilosophie festzulegen oder bei der Neuausrichtung eines Unternehmens als eine Art Kompass dienen. Besonders bei der Nutzung von Ikigai in Organisationen ist vor allem die wertschätzende Perspektive in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Ikigai mit sich bringt, welche am Ende auch den Antrieb des Unternehmens stärkt.
Ikigai in Organisationen zu nutzen ist auch deshalb sinnvoll, weil emotionale intelligenz in Unternehmen weiterhin einen entscheidenden Faktor darstellt. Menschen sind mehr als nur „Human Ressources“, die rein rational handeln. Deshalb ist es wichtig, die Anschlussfähigkeiten von Menschen zu verstehen und zu fördern, wobei Ikigai eine wichtige Rolle spielen kann. Ikigai bedeutet in diesem Kontext auch, die Andersartigkeit von anderen Menschen zu akzeptieren, so dass trotz möglicher Unterschiede echte Verbundenheit entstehen kann.
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